Für seinen neuen Roman „Lichtspiel“ hat Daniel Kehlmann einmal mehr eine historische Figur genommen und um sie herum eine mehr oder weniger fiktive Geschichte gesponnen. Schon mit der fiktiven Doppelbiografie zu Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß („Die Vermessung der Welt“) und dem historischen Roman mit Till Eulenspiegel als Hauptfigur („Tyll“) gelang es ihm auf herausragende Weise, kluge und unterhaltende Bücher zu schreiben. Diesmal heißt der Protagonist G. W. Pabst. Pabst („Der rote Pabst“) war einer der bedeutendsten Filmregisseure der Weimarer Zeit. Zum Helden taugt die Figur wahrlich nicht: Sie ist egoistisch, betrügt ihre Frau und sich selbst durch manche Gedankenverrenkung, schafft es nicht, ihrem Gegenüber ihre wahren Gedanken zu erzählen. Ist also allzu menschlich.

Ein Fest für Deutsch-Leistungskurse

Kehlmanns Roman ist bestimmt bald ein Fest für manchen Deutsch-Leistungskurs, um ihn ausführlich zu interpretieren und zu analysieren. Wie verhält es sich mit den Parallelen zwischen Schnitttechniken und Erzähltechnik? Was für Genres der Filmkunst nutzt Kehlmann? Reihenweise treten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte auf, manchmal nur sehr kurz wie Heinz Rühmann, manchmal sehr ausführlich wie Leni Riefenstahl, deren Begegnung mit Pabst Kehlmann wie eine Komödie inszeniert. Der Besuch bei Goebbels (dessen Name nicht ausgeschrieben wird) wiederum lässt sich als Hommage an Chaplins „Der große Diktator“ lesen.

Pabst hatte ein großes Büro erwartet, nicht aber ein so großes. Der Raum hätte über hundert Menschen fassen können; aber alles, was er enthielt, war ein riesiger Teppich und, weit entfernt, ein Schreibtisch mit einem Telefon und zwei Stühlen. An der Wand dahinter – so weit weg, dass man blinzeln musste, um es zu erkennen – hing ein golden gerahmtes Bild des Führers. Hinter dem Schreibtisch saß der Minister.

Ein Buch über Mitläufertum

G. W. Pabst versucht nach der Machtergreifung der Nazis, wie so viele Kollegen in Hollywood Fuß zu fassen, scheitert dort allerdings vor allem an seinem schlechten Englisch. Er wird zurück ins Deutsche Reich gelockt, später schafft er es nicht mehr heraus, will es im Grunde auch nicht, da er hier das machen kann, was er will: Filme drehen. Pabst wird zum Mitläufer, der für seine Filme sogar KZ-Gefangene als Statisten einsetzt.

Da waren sie, reglos, weil man es ihnen befohlen hatte, schweigend, weil sie nicht sprechen durften, Reihe für reihe, teils hier im Raum und teils jenseits der Spiegel, versuchten aufrecht zu sitzen, weil sie mussten, aber viele konnten nicht, und einige husteten, was sie zwar nicht durften, aber auch nicht unterdrücken konnten. Der Geruch war furchtbar.

Der Roman findet seinen Höhepunkt in der Arbeit zu „Der Fall Molander“, mit dem Pabst sein Meisterwerk abliefern will. Buchstäblich im Bombenhagel der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs werden die Dreharbeiten beendet, Pabst schafft es gerade noch so, den Film zu schneiden, und verliert ihn doch im Chaos des Zusammenbruchs.

Mit „Lichtspiel“ ist Daniel Kehlmann einmal mehr ein unterhaltsamer und kluger Roman gelungen – unbedingte Leseempfehlung!

Rowohlt, Hamburg 2023

480 Seiten, 26 Euro

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