Ohne Frage ist Ian McEwan einer meiner liebsten Schriftsteller: Von seinem Frühwerk Der Zementgarten über Abbitte bis zu Maschinen wie ich stehen einige Bücher des Briten in meinem Regal. Im Urlaub hatte ich nun die neueste Veröffentlichung dabei: Lektionen.

Die Geschichte ist unspektakulär: Roland Baines ist alleinerziehender Vater, seine Frau Alissa verlässt ihn und den neugeborenen Sohn. Geschickt springt McEwan in der Zeit vor und zurück und erzählt die Lebensgeschichte von Roland und seinen Schicksalsschlägen, die sein Leben geprägt habe. Seine Klavierlehrerin missbraucht den 14-jährigen Internatsschüler; was mit ihm geschehen ist und wie sich dieser Missbrauch ausgewirkt hat, wird ihm jedoch erst im hohen Alter klar. Roland kann sich nicht fest binden und springt von einer Beziehung zur nächsten. Seine Lehrer entdecken sein großes Talent fürs Klavierspielen, Roland flüchtet jedoch von der Schule und schlägt sich zeitlebens mit kleinen journalistischen Arbeiten und als Barpianist durch.

Eingewobene Zeitgeschichte

Wie schon in früheren Büchern verwebt der Autor zeitgeschichtliche Momente in seiner Erzählung, so bekommen wir die Kuba-Krise oder den Tschernobyl-Unfall mit und Roland ist (fast) zufällig am Tag nach dem Fall der Mauer in Berlin.

Es ist geradezu rührend, wie McEwan mit seinem Buchpersonal umgeht. Er verurteilt nicht, er erzählt. Über moralische Fragen kann sich der Leser selber Gedanken machen, so auch darüber, ob es Recht oder Unrecht war, dass seine Frau Alissa ihre Familie verlässt, um eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Europas zu werden. Und er schafft es, slapstickhafte Momente wie den Kampf zweier alter Männer darum, wer die Asche der geliebten verstorbenen Frau in den Fluss verstreuen darf, ohne Peinlichkeiten zu beschreiben. So auch die wunderbare Szene, in der Alissa Roland anbrüllt, um ihm zu erklären, wie man einen Roman liest: Dass alles darin nämlich Fiktion ist und nichts mit ihm zu tun hat.

Es ist einfach schön, wie die Geschichte so leicht dahinplätschert, man sich aber dabei wünscht, dass das Plätschern nicht so schnell aufhören möge.

Ian McEwan: Lektionen, Diogenes, 720 Seiten, 32 Euro

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